Die Mauer
(kurze Lyrik, bzw. Songtext von 1989)
Seit Jahrzehnten hat sie gestanden,
erschaffen aus den Schanden,
der großdeutschen Einigkeit,
der dreißiger Jahre Nazizeit
Nun aber endlich,
es ist soweit
das deutsche Land
ist nicht mehr geteilt
Menschen kommen sich jetzt wieder näher
doch politisch tut sich dieses Volk sehr schwer
Welche Mark ist nun die echte
Welche Rechte sind gerechte
Welche Parteien sind die richtigen
Welche Probleme sind die wichtigen
Mauer hin und Mauer her,
ach, was ist das Deutschsein schwer
Wir können uns nun alle freuen,
dürfen gehn´, wohin wir wollen,
ich freu´ mich mit,
solange sie nicht wieder schreien,
wir müssen die ganze Welt befreien
Mal ganz ehrlich,
was wir als Deutsche wichtig nehmen,
ist kein wirkliches Existenzproblem
wir haben genug zu essen,
könn´ unsere Bäuche mit ´nem Zollstock messen
wir haben alle mehr,
als was wir brauchen
Anderen Völkern,
wie geht's denn denen,
eigentlich müssten wir uns doch schämen,
nur darüber nachzudenken,
was wir für ein Auto fahren
oder an welchem Zins wir sparen
Jeder Zweite hat nicht genug zu Essen,
auf unserem Planeten,
aber wir haben dafür Atomraketen
Wer wird davon satt?
dass eines Tages die Mauer fällt,
die getrennt hat unsere Welt,
ist schlichtweg Glück
der freien Seelen
manche wird's noch Jahre quälen
Jetzt geht's nur ums Geld
auch wenn's nicht jedem mehr gefällt
Ach
deutsch zu sein
ist nicht schwer
aber Mensch ????
Damals hätte niemand gedacht, dass es einmal so kommen würde.
1978 war noch alles in seinem festen Rahmen, da gab es den Osten und
den Westen, die unvereinbaren politischen Blöcke. Die Menschen
lebten in ihnen und gerade die im Osten mussten sich damit abfinden,
dass sie kaum Möglichkeiten hatten, um dies grundlegend zu ändern.
Aber auch im Westen war nicht jeder in der Lage wirkliche Freiheit zu
erfahren.
Jahrzehnte glaubten beide Seiten, dass sich hier zwei unvereinbare Welten
gegenüberstehen und man setzte vordergründig alles daran,
dass dies auch so bleibt.
Der kalte Krieg war allgegenwärtig.
Der Westen, in seinem Wahn der Konsum orientierten Leistungsgesellschaft
war damals ebenfalls schon auf dem besten Wege zu scheitern. Man konnte
es bis heute nur wesentlich besser verdrängen. Der Ausschuss des
Produktes "Mensch" ist längst unkalkulierbar geworden,
aber man nimmt es in Kauf und solange die Oberen der Klassengesellschaft
genügend Profite machen ist alles erlaubt.
Es war der 16. Juni 1978 als ich Benni das letzte Mal gesehen habe.
Es war ein schöner Frühlingstag, ein wirklicher Tag für
Erinnerungen an eine gute, wenn auch nicht sehr intensive, Freundschaft.
Ich hatte nicht an ihn gedacht, als er bei mir Zuhause auf mich wartete.
Ein seltener Besuch. Obwohl wir miteinander aufgewachsen waren, sind
wir nie die dicksten Freunde gewesen. Ich glaube er war nur zweimal
bei mir.
Vor diesem Treffen hatten wir uns gut vier Wochen vorher gesehen. Immer
wenn wir uns trafen, redeten wir über ähnliche Dinge. Ich
weiß auch nicht woran es lag, aber wir brauchten nur ein paar
Worte wechseln, schon sprachen wir über Weltpolitik oder phantasierten
über den Lauf der Geschichte. Ich habe mich schon immer für
die Weltgeschehnisse interessiert und bei Benni schien es nicht anders
zu sein. In meinem Freundeskreis, war er der Einzige mit dem ich so
ausgelassen disputieren konnte und wir teilten Ansichten, mit denen
ich bei anderen Bekannten kaum Anklang finden konnte. Vor allem die
Ansichten über unseren Staat, den man die DDR nannte.
Benni war siebzehn Jahre alt und lebte in Ostberlin, in Marzahn. Wir
kannten uns aus dem Dorf Zerpenick, wo er aufgewachsen war und ich immer
noch lebte. Er hatte gerade etwas vorzeitig die Schule beendet und es
war nicht ganz einfach für ihn eine vernünftige Arbeit zu
finden. Außerdem schwebte über ihm die Einberufung in den
Militärdienst. Er wusste, dass er da nicht drum herum kommen würde,
es sei denn er würde verweigern, doch das brachte die negativsten
Konsequenzen mit sich. Bis jetzt war er noch nie in einen Konflikt mit
der Obrigkeit geraten.
Wir wussten in diesem Alter, dass nicht alles so rosig ist, wie die
Verantwortlichen es gerne darstellten. Sicher würde er auch eine
Arbeit bekommen, um den nächsten Schritt in die Erwachsenenwelt
machen zu können. Vielleicht oder wahrscheinlich nicht wirklich
das, was er am liebsten machen würde, aber er würde zumindest
eine Chance bekommen, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Er war in unserem kleinem Dorf, einem Vorort von Berlin zur Welt gekommen
und später war seine Familie dann nach Marzahn gezogen, da sein
Vater über seine Arbeit eine Wohnung zugeteilt bekommen hatte.
Er liebte sein Dorf und als sie umzogen, er war zehn Jahre alt, brauchte
er lange um sich einzugewöhnen. Wenn er nicht durch seine freundliche
Persönlichkeit so schnell einige neue Freunde kennen gelernt hätte,
dann wäre er wohl in dieser Stadt nie glücklich geworden.
Hier in diesen neu gebauten und immer noch nicht fertig gestellten riesigen
Betonplattenbauten war der Mensch nur noch zu einem eingeordnetem, gut
zu gebrauchenden, einsetzbaren Staatsbürger geworden. In unserem
Dorf hatten wir noch so etwas wie ein eigenes Zuhause und wir lebten
in einer Gemeinschaft. Doch hier in Marzahn kannte Niemand den Anderen
richtig und oft sah es so aus, als wollte auch Niemand etwas von dem
Anderen wissen.
Die Kinder waren da etwas unkomplizierter, aber wenn er sich seine Familie
betrachtete, dann konnte er nur sehen, dass seine Eltern nicht zufriedener,
sondern eher unglücklicher wurden. Sie fingen an sich immer häufiger
zu streiten, was er früher von ihnen nur in ganz seltenen Fällen
kannte.
Als wir uns das letzte Mal trafen, am 16.Juni 1978, war er verdammt
aufgeregt. Ich habe ihn begrüßt und ihm angeboten mit mir
zu Abend zu essen. Es war 16.30°°, ich kam gerade aus der Schule,
wir hatten noch im Rahmen unserer Jugendarbeit in der Druckerei gearbeitet.
Es dauerte einen Moment bis er in der Lage war mir seine Geschichte
zu erzählen, die ich bis heute eigentlich nie richtig glauben wollte,
obwohl ihr Wahrheitsgehalt kaum zu verdrängen ist.
Er sah übernächtigt aus und er war paranoid. Mindestens zweimal
ging er ans Fenster und blickte verstolen hinter den Vorhängen
nach draußen.
Ich machte uns etwas zu essen und als ich am Tisch saß, konnte
ich nicht länger warten: "Was ist los mit dir, du bist zwar
sehr ruhig, aber verdammt aufgeregt, ich seh es dir an?!"
"Ich glaube ich brauch´ noch einen Moment, bis ich alles
geordnet habe."
Ohne noch ein Wort zu sagen, verfielen wir wieder in Schweigen. Unser
letztes Treffen, vor vier Wochen, war bei weitem lockerer, obwohl Benni
schon an jenem Tag über Dinge redete, die mir hätten zu denken
geben müssen. Er erwähnte völlig euphorisch, dass sich
sein Leben bald verändern würde. Bei näherem Hinsehen
war eigentlich kein Anlass dafür zu entdecken. Seine Lehrstelle
war nicht das was er wollte und seit er die neue Wohnung hatte, konnte
er sich kaum noch etwas leisten. Sein Vater hatte den Standpunkt, dass
er sein Leben selbst bestreiten muss. Kein Pfennig Unterstützung.
Sie hatten eh nicht viel zu geben.
Seine Freundin war vor knapp einem Monat auf und davon. Alles in allem
war lediglich seine Lebensfreude etwas spürbar Positives in seinem
Leben. Die alltäglichen Probleme, die wir eigentlich alle in unserem
Alter hatten, rückten bei uns in den Hintergrund, wenn wir Spaß
mit unseren Freunden hatten.
Das Leben ging seinen Gang, wozu sollte man sich mit den unveränderbaren
Faktoren wirtschaftlicher und nicht selten geistiger und kultureller
Not belasten. In unserem Land gab es unumstößliche Vorgänge
gesellschaftlicher Integration, die an Initiationsriten archaischer
Völker erinnerten. Wer mit ihnen brach, der brach damit die Verbindung
zur Gesellschaft.
Benni wandelte auf einem Grat und er war sich dessen nicht einmal bewusst.
Noch während des Abendbrots gehen mir die irrealsten Szenen durch
den Kopf. Banküberfall, Raub ? Unfallflucht?...Ich weiß es
nicht. Irgendwas lag gerade hinter ihm und was es auch immer sein sollte,
ich wollte es jetzt wissen: "Hör mal zu Benni, ich habe keine
Lust mit dir hier am Tisch zu sitzen und kein Wort kommt dir über
die Lippen. Ich sehe doch, dass du völlig verstört bist. Was
ist los? Hast du was angestellt?"
"Angestellt?...Junge, es ist vorbei, dass wir was anstellen! Alles
was wir jetzt machen ist kriminell, wenn nicht sogar staatsfeindlich.....Ja
ich habe etwas angestellt!"
"Na und was ?"
"Du wirst es nicht glauben, ich habe unser Land verlassen."
"Und du bist zurückgekommen?"...was anderes war mir wirklich
nicht eingefallen.
"Ich bin zurückgekommen....und ich sage Dir, was da drüben
auf uns lauert ist die Welt von Übermorgen."
"Du spinnst", bis jetzt hatte ich nie das Gefühl, dass
er mich jemals belogen hätte, aber diese Geschichte musste einfach
eine Lüge sein.
"Glaub es oder Lass es....jedenfalls werde ich gesucht. Und wenn
du alles wissen willst, dann erzähle ich es dir. Wer weiß,
ob ich es noch jemandem erzählen kann."
"Na klar will ich es wissen, aber erzähl mir keinen Scheiß!"
"Was du von mir zu hören kriegst, ist genau das, was ich gesehen
habe und einiges davon ist auch für mich kaum zu glauben. Du musst
selbst entscheiden was du mir abnimmst und was nicht."
"Warte ich hole uns noch was zu trinken und die Zigaretten aus
meiner Tasche", ich war noch in der Küche, da fing Benni an
zu erzählen:
"Weißt du noch als wir uns das letzte Mal gesehen haben?"
"Ja."
"An dem Tag bin ich los, nach drüben, ins gelobte Land. Ich
bin die Tage davor schon mehrmals auf einem Parkplatz gewesen und habe
mich genau informiert."
"Auf was für einem Parkplatz ?"
"Na einen an der Transit-Strecke, kurz vor Berlin. Also, ich habe
da gesehen, dass hier ab und zu einige Karren anhalten und die Leute
verschwinden im Wald um zu kacken. Manchmal auch Lkws. Das war mein
erster Plan. Ich wollte mich unter so ´nen polnischen Zug hängen,
die in den Westen kutschen."
"Na schön blöd Alter !"
"Vielleicht ? Ich habe mir das genau überlegt. Ich bin aber
froh, dass es dann doch anders gekommen ist...Na, ich liege also auf
der Lauer am Waldrand und erst mal passiert von 23°°-1°°
gar nichts. Dann kommt so´n dreckiger Ladazug und ich war schon
drauf und dran mich fertig zu machen. Doch der Fahrer ist nicht ausgestiegen
und legte sich pennen. Außerdem kamen mir die ersten Zweifel,
ob denn gerade dieser Lkw nach Westberlin fährt und nicht doch
noch vor der Grenze runter von der Bahn.
Auf jeden Fall ist der sowieso stehen geblieben, der Fahrer legte sich
pennen. Dann kamen alle halbe Stunde irgendwelche Pkws. Ich hab nachgedacht,
wie man in so ein Fahrzeug reinkommt.
Um ungefähr 2.30°° rauscht ein blauer Bmw, ´ne Limousine,
auf den Parkplatz. Der Fahrer springt raus und rennt in den Wald. Ich
habe nicht mehr überlegt und bin sofort zu dem Wagen gerannt. Ich
bin hinten eingestiegen und habe mich hinter den Fahrersitz gequetscht.
Der hatte da hinten tatsächlich Anzüge aufgehängt. Ich
sage dir mein Herzschlag ist auf 180 hochgefahren.
Draußen war's stockdunkel. Der Typ hatte wohl ein längeres
Geschäft zu verrichten. Auf jeden Fall habe ich noch überlegt
wieder raus zu springen. Dann ging das Licht an, er steigt ein und wir
rauschen los. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens.
Ich wusste ja was ich vorhatte, aber eigentlich sind mir die Konsequenzen
bis heute noch nicht ganz klar. Ich habe hin und her überlegt und
der Typ ist Kilometer für Kilometer auf die Grenze zu gefahren.
Dann habe ich etwas erlebt, was für mich ganz neu war. Als die
ersten Lichter des Grenzstreifens in das Auto fielen, hat mich ein völlig
neues Gefühl befallen. Wie soll ich sagen, es war wie der Wechsel
von Freitag zu Sonnabend. Die Luft schien anders zu schmecken und ich
sah nur noch freies Land vor mir. Die Angst war auf einmal verschwunden.
Mir war es tatsächlich egal, ob sie mich gleich erwischen oder
ob ich rüber komme.
Anscheinend war heut Nacht nichts los, es ging alles eins, zwei, drei.
Keine Worte, Pass hin, Pass her, ein kurzes "Auf wieder sehen"
und weiter. Ich war drüben.
Danach ist der mit seiner Karre losgezischt, ich sage dir.
Jetzt musste ich nur noch hier wieder raus kommen. Am besten ungesehen.
Aber er hat bis zu seiner Wohnung nicht mehr angehalten. Er machte die
Tür auf und nimmt alle Anzüge von der Stange und dann erstarrt
er zu Stein. Er hat sich dermaßen erschrocken, dass ich raus springen
konnte. Ich bin losgerannt. Ich hab noch gedacht, ob der Typ ´n
Herzschlag erleidet. Es ging alles sehr schnell. Ich glaube nicht, dass
er mir hinterher gerannt ist. Alles was ich wusste war, dass ich in
Westberlin angekommen bin, aber wo genau, keine Ahnung.
Das war eine echte Villengegend. Ein Haus war prächtiger als das
andere. Ich bin erst mal weitergelaufen und habe überlegt. Die
Richtung war eh egal. Mir war auf einmal arschkalt.
Zuerst hatte ich mir vorgenommen, dass ich sofort die Polizei informiere
und mich sozusagen den Behörden stelle. Aber es hatte alles so
gut geklappt, dass mich der Gedanke nicht losließ, hier erst mal
Inkognito rum zu laufen. Ich hatte genau hundert Mark, die mir Tante
Marie vor vier Jahren geschenkt hat. Sie meinte, sie würde dieses
Westgeld sowieso nicht ausgeben. Hundert D-Mark, weißt du was
das bedeutet?"
"Nein, woher denn."
"Na ja, hört sich doch viel an? Aber eigentlich ist es nicht
viel. Endlich bin zu einer S-Bahn Station gekommen, Mexikoplatz, der
Bezirk heißt Zehlendorf glaub ich. Der war zwar noch zu, aber
ich habe da gewartet, es war schon kurz nach vier. In der Nacht ist
es drüben genauso tot wie bei uns.
Ich bin in der Nähe vom S-Bahnhof durch zwei kleine Straßen
gelaufen und habe mir die kleinen Geschäfte angesehen und es war
ein echtes Erlebnis. Du glaubst nicht, was man für Geld alles kaufen
kann. Auf dem Bahnhof habe ich mich dann erst mal orientiert. Ich wollte
ins Zentrum, an den Kudamm oder zum Zoo. Ich hab's nicht anders gemacht
als sonst und bin schwarzgefahren. Was konnte mir auch schon passieren.
Die Fahrt war Klasse. Die Stadt ist total anders, hier ist tierisch
was los und vor allem ein wahnsinniger Verkehr. Morgens geht's los,
alles setzt sich in Bewegung.
Am Zoo war ich um kurz nach 5°°, hier sah´s verdammt schäbig
aus. Der Hauptbahnhof ist viel schöner. Ich wollte mir was zu Essen
holen und habe die Ohren angelegt, was die für Preise für
belegte Brötchen aufrufen. Ich bin denn los, um einen Bäcker
zu suchen in irgendeiner Nebenstraße. Es war schon 6°°.
Anscheinend hatte ich nicht den richtigen Ausgang erwischt und bin nach
hinten raus. Es stank nach Pisse und ab und zu lagen irgendwelche Gestalten
herum. Es war echt wundervoll. Erst nachher habe ich gesehen, dass direkt
auf der anderen Straßenseite, die Visastelle der DDR liegt.
Der Bahnhof und seine Szenerie war auf jeden Fall mein erster deutlich
negativer Eindruck vom Westen.
Hier am Zoo gab´s keinen vernünftigen Bäcker, aber eine
Fülle von Kaufhäusern und Geschäften, Imbissbuden und
einen Supermarkt von dem du träumst. Fressen über Fressen.
Da bin ich rein und habe mir was gekauft. Lecker, echt lecker.
Erst mal bin ich wieder zurück zum Bahnhof, weil´s da was
zu sitzen gibt und habe gefrühstückt. Zuerst habe ich mich
an einen Tisch von einem Imbiss gestellt. Der Verkäufer hat mich
gleich weggescheucht. Ich hatte ja auch nichts bei ihm gekauft. Also
bin ich auf die Stufen der Treppen gegangen.
Ich hab die Szenerie in der Vorhalle beobachtet und nachgedacht. Einerseits
war ich erleichtert und anderseits gingen mir immer mehr Grübeleien
durch den Kopf, wie ich mich jetzt verhalten sollte.
Im Bahnhof bewegte sich alles verdammt schnell. Außer am Hinterausgang,
da trafen immer wieder Personen ein, die dort rumstanden und sich unterhielten,
verschwanden und wiederkamen. Ich hab's nicht kapiert, erst später.
Bevor ich hier wieder verschwinden wollte, habe ich mir eine Zeitung
gekauft. Eine BZ. Irre was da alles drin stand. Wir leben hier hinter
dem Mond oder vielleicht noch weiter weg. Die Welt ist so groß.
Und in der Zeitung annoncieren massenhaft irgendwelche Weiber, die du
anrufen kannst um dich mit ihnen zum Vögeln zu verabreden. Du musst
natürlich bezahlen. Klaro.
Ich hab mir danach noch andere Zeitungen gekauft, es war irre interessant.
Ich glaube die verarschen uns hier. Nicht nur, dass wir uns Nichts leisten
können, wir wissen auch nur die Hälfte."
"Ach, das ist doch Quatsch, wenn du was wissen willst, kannst du
es auch rausbekommen."
"Nein, kannst du mir nicht erzählen, im Westen gibt's Sachen
über die öffentlich geredet werden, die darf hier niemand
ansprechen. Es ist auch egal, heute bin auch schlauer. Ich hatte mir
gedacht, dass ich ein bisschen rum Bummel und mir etwas von der Stadt
ansehe. Also bin ich los um jemanden anzusprechen. Die meisten Leute
waren schnell unterwegs. Mit jedem Zug drängelten sie sich die
Treppen rauf und runter. Am Kiosk habe ich nach einem Stadtplan gefragt,
der hätte mich fast 10 DM gekostet, ich hab´s gelassen.
Ich bin wieder zum Hinterausgang, wo mehrere Typen rumstanden und auch
zwei junge Mädchen. Ich hab den Einen angesprochen: "Sag mal
kannst du mir vielleicht helfen", er nickte.
Als ich ihm gegenüberstand, bemerkte ich seinen muffigen Geruch,
seine Klamotten waren ziemlich zerknautscht. Ich hab ihn gefragt, was
sich ein Tourist in Westberlin ansehen könnte und hier in der Nähe
liegt. Er gab mir ein paar Tipps, von Zoo bis Schloss Charlottenburg
und ich hatte das Gefühl, dass ich seine Wegbeschreibung im Kopf
behalten könnte.
Als ich von ihm weg ging, kommt eines der herumstehenden Mädchen
auf mich zu, sie sah müde aus und fragt mich: "Haste ´n
bisschen Knete für mich?"
So schnell habe ich es gar nicht kapiert und frage: "Was?"
Sie sagt: "Du Scheißer!"
Ich frage wieder: "Was?" Ich muss dazu sagen, ich habe die
ganze Zeit freundlich gelächelt.
Sie sagt: "Verpiss dich!"
Jetzt hatte ich sie verstanden. Ich sagte jedenfalls unbeeindruckt:
"Entschuldigung, ich habe dich nicht verstanden."
Sie sagt betont, laut und deutlich: "Ob du ein bisschen Geld übrig
hast."
"Wofür", mit dem dummen Wofür, kamen mir auch gleich
die entsprechende Erklärung in den Kopf."
Ich war dazwischen: "Das war ´ne Nutte!"
"Das ging mir auch durch den Kopf, aber die wollte Geld von mir
geschenkt haben. Sie sagt jedenfalls schlagfertig und eigentlich ironisch:
"Um mit dir einen Kaffee trinken zu gehen...." Ich hatte es
immer noch nicht kapiert. Aber sie lächelte. Die hatte voll komische
dicke Augen.
Ich habe nicht mehr überlegt und gesagt: "Warum nicht."
Ich: "Wie sah sie denn aus?"
"Susanna ist verdammt niedlich. Sie ist sechzehn."
Ich: "Na genau in meinem Alter."
"Ich finde sie sehr hübsch und ich habe mich auch in sie verliebt."
An diesem Punkt musste ich noch einmal an Bennis Geschichte zweifeln.
Er war wieder hier und erzählte mir gerade, dass er sich angeblich
im Westen verliebt hatte, irgendwie passte das doch nicht: "Und
du bist dennoch wieder zurückgekommen, irgendwie verstehe ich das
nicht ganz."
"Ich auch nicht! An diesem Tag haben wir uns jedenfalls kennen
gelernt. Wir sind zusammen einen Kaffee trinken gegangen. Sie hat mich
ausgefragt. Ob ich nicht aus Berlin komme, wo ich wohne, wie alt, was
ich vorhabe? Ich bin kaum zu Wort gekommen und musste laufend überlegen,
was ich für Antworten gebe. Ich wollte ihr nicht gleich meine Geschichte
erzählen. Wir sind weg vom Bahnhof ZOO gefahren, zwei Stationen,
nicht mehr. Und dann sind wir in ein Frühstückskaffee gegangen.
Eine gute Einrichtung, gibt´s drüben überall. Dann haben
wir los gequatscht.
Ich hatte nicht kapiert, warum sie da am Zoo rumhing, jetzt wurde mir
vieles klar. Ganz habe ich es bis heute nicht verstanden. Wahrscheinlich
bin ich auch deshalb wieder hier. Ich verstehe diese Welt da drüben
einfach nicht."
Ich: "Was ? Dass sie auf den Strich geht."
"Quatsch! Sie hat mir innerhalb einer Stunde ihre ganze Geschichte
erzählt, ohne zu wissen wer ich bin, woher ich komme. Und ich sage
dir, was für eine Geschichte. Klar, sie ging auf den Strich. Aber
sie wollte eigentlich mal was andres machen..."
Ich: "Das sagen alle."
"Vor allem kennst du alle?! Sie ist drogenabhängig, sie muss
sich laufend neuen Stoff besorgen. Ihre Familie bietet ihr keine Alternativen.
So wie ich das alles kapiert habe, sind die da drüben nicht viel
anders als bei uns. Entweder kapierst du wie der Hase läuft, machst
mit, erkämpfst dir eine Position und der soziale Friede ist hergestellt.
Wenn niemand Zeit hat, mit dir verschiedene Möglichkeiten zu besprechen
und dir unter die Arme zu greifen, dann gehst du als Jugendlicher vor
die Hunde. Alleine kannst du gar nicht alles begreifen, was du als Bürger
für Pflichten übernehmen sollst."
Ich: "Was für Pflichten ? Du musst ackern und zahlst Steuern..."
"Und, und, und...mach dir doch nichts vor. Sie geben dir doch den
Weg und das Denkmuster vor und wenn du es verinnerlicht hast, dann gibt´s
auch keine Probleme mehr. Wie viel Individualität und Kreativität
dabei auf der Strecke bleibt ist dann sowieso egal. Bist du frei? Oder
fühlst du dich nur so, weil du gelernt hast nicht zu viele Fragen
zu stellen. Drüben ist es nicht anders. Du funktionierst oder du
funktionierst nicht, aber währenddessen sie bei uns erst Recht
aufmerksam werden wenn du nicht funktionierst, wirst du drüben
erst Recht allein gelassen, wenn du nicht richtig funktionierst.
Ich: "Habe ich verstanden???"
"Susanna irrt jedenfalls durchs Leben und sie ist nicht die Einzige.
Was ich an Elend gesehen habe, übertrifft den schlimmsten Urlaub
in Bulgarien."
"Wo ihr von der Autobahn abgefahren seid?"
"Ja. Es ist aber nicht die Armut, die dir ins Auge springt, du
musst schon gut hingucken, um den Abfall der Gesellschaft zu erkennen.
Und ich war in Berlin, nicht in London, New York oder in Neu Delhi.
Was wir bis jetzt über die Welt gelernt haben mag zwar politologisch
stimmen aber humanistisch hat es nichts mit der Realität zutun.
Dazu musst verstehen, wie die unsere DDR sehen. Die Bemitleiden uns.
Die stellen überhaupt nicht in Frage, was bei ihnen abläuft.
Die Gescheiterten sind die Gescheiterten, die nichts anderes versuchen
als wieder mitzuspielen und die Satten, bleiben die Satten, bis sie
sich zu den Gescheiterten zählen dürfen. Wer stirbt scheidet
aus. Ich habe da drüben vier Tote miterlebt."
"Sag mal, wo hast du dich rumgetrieben. Senden die nur die Kulisse
über ihre Sender und leben im Müll. Wo ist der so viel beschriebene
Luxus?"
"So ist es ja, überall ist Luxus und Pomp, aber nur weil alle
rennen. Wenn du ´ne Weile drüben bist, spürst du den
Stress. Hast du Arbeit, dann bist du mit Haut und Haaren dabei, hast
du keine, machst du noch mehr Stress, um eine Neue zu bekommen oder
bei den Ämtern anzutreten.
Als Susanna zu Ende erzählt hatte, habe ich mir verkniffen meine
Geschichte zu erzählen. Ich hab nachgedacht. Eigentlich hat sie
nicht mehr erwartet, als nachdem Kaffee zehn oder zwanzig Mark von mir
zu bekommen. Sie wusste ja nichts über meine finanzielle Lage.
Ich hab nichts gesagt und sie zu einen Spaziergang durch den Zoo eingeladen.
Sie ist kurz noch mal abgehauen und nach einer halben Stunde sind wir
zurückgefahren. Der Zoo ist viel kleiner als der Tierpark, die
armen Viecher. Aber wir haben viel Spaß gehabt. Unterwegs habe
ich es ihr dann erzählt. Sie hat gelacht aber irgendwann hat sie
es dann verstanden. Ab dem Punkt hatten wir ein noch viel besseres Verhältnis.
Sie hat mich mitgenommen.
Sie wohnte in Charlottenburg in einem alten Haus im Kiez. Hier wohnten
noch zwei Typen und eine Frau, die wesentlich älter waren, totale
Hippies. Die Wohnung war spitze aber restlos vergammelt. Sie hatte ein
Zimmer mit ´ner ollen Matratze und paar Regale. Es war nicht ungemütlich
aber unaufgeräumt. Susanna kramte alles schnell zusammen. Eins
war klar, hier konnte ich heute Nacht pennen. Ich habe ihr beim aufräumen
geholfen und dann haben wir zusammen was für ein Mittagessen eingekauft
und gekocht. Ich bin immer mehr auf sie abgefahren. Vor allem, als sie
sich geduscht hatte.
Sie ist fast einssiebzig groß und hat schöne, gewellte, lange,
dunkelbraune Haare und eine tolle Figur. Ich hätte mich auf sie
stürzen können. Wir haben gegessen und sie hat mir erklärt,
dass sie abends wieder weg muss. Plötzlich hat sich der Magen umgedreht.
Ich habe mir sofort vorgestellt, wie sie mit irgendeinem Mann ins Bett
geht. Mir wurde schlecht.
Ich wusste, dass sie auch damit Geld verdient, außerdem hat sie
Stoff verkauft. Ich habe sie gleich gefragt, was sie jetzt vorhat. Sie
hat mir gesagt, dass sie noch was verkaufen muss. Keine Freier.
Sicher war ich nicht, ob ich es ihr glauben sollte.
Ich habe den ganzen Abend gelesen und Glotze geguckt. Höllisch
interessant. Es ist tatsächlich eine andere Welt. In vielen Dingen
war es wie ein Blick in die Zukunft. Aber ich weiß nicht, ob es
eine erwünschenswerte Zukunft ist. Wenn die so weiter produzieren,
dann verändern sie alles, nichts Natürliches wird übrig
bleiben.
Der Fortschritt ist gnadenlos. Ich habe so viele Berichte über
fatale Umweltzerstörungen gelesen, wie in meinem ganzen Leben zuvor
nicht. Es gibt viele Leute, die sich gegen den Leistungsdruck wehren
wollen. Drüben gibt es immer wieder Demonstrationen, die sind zwar
nicht verboten, aber man lässt die Knüppel tanzen. Ich bin
da einmal hingegangen, es ist eine Straßenschlacht geworden. Junge
wir leben ruhig hier drüben, aber wir verblöden. Wenn die
Mauer fällt, werden alle nach kürzester Zeit nach Luft japsen..."
"Die Mauer fällt nie. Spinnst du."
"Ich weiß nicht ob sie fällt, aber wenn sie fällt,
wissen wir von da drüben viel zu wenig, um uns vor dem Chaos zu
bewahren."
"Wieso Chaos ? Alles was ich weiß und worüber wir schon
öfters gesprochen haben ist doch, dass du drüben doch vielmehr
Möglichkeiten hast dein Leben zu gestalten."
"Das ist es. Du kannst freier Leben, du kannst versuchen dich zu
verwirklichen. Alles ist qualitativ besser und vielseitiger. Ich kann
nichts andres darüber sagen. Wenn du aber genau hinsiehst, dann
entdeckst du schnell, dass auch hier nur halbe Sachen gemacht werden.
Du bist nur zum Teil frei, es ist nur zum Teil demokratisch, die Vorraussetzungen
sind nur zum Teil gleich verteilt. Sie haben gute Ansätze, doch
auf dem Weg zur Umsetzung steht der eigennützige Profit vor der
gesellschaftlichen Verwirklichung. Wer in die soziale Mühle gerät
bekommt soziale Komplexe und fast keine gesellschaftliche Anerkennung."
"Du meinst sie verteilen keine Orden", ganz ernst hatte ich
diese Zwischenfrage nicht gemeint.
"Orden ? Scheiß auf die Orden, die sie uns hier anhängen
wollen. Damit haben sie drüben schon abgeschlossen. Kauf dir deine
eigenen Orden und häng sie dir selbst um. Autos, Häuser, was
immer du willst. Das ist was zählt. Angeblich ist für alle
genug da. Aber das stimmt nicht, es kann nicht funktionieren. Es ist
wie ein Pilotspiel..."
"Was ist das?"
Es gibt eine Liste mit Namen und man animiert in seinem Bekanntenkreis
immer mehr Leute sich auf die Liste schreiben zu lassen. Die letzten
der Liste zahlen an die ersten der Liste Geld und sollen so selber Stück
für Stück an die Spitze der Liste kommen, so dass nun an sie
selbst eingezahlt wird. Es klappt nur für Wenige, die meisten zahlen
zu. Das System funktioniert nicht. Profit entsteht nur auf Kosten der
Natur oder anderen Menschen und Völkern.
Aber so ist auch ihre Wirtschaft. Jeder zahlt ein, vorerst an jeden.
Dann doch mehr an Einige, als an die Meisten. Jeder erwirtschaftet Profite,
hauptsächlich für einige Wenige, aber nichts für die
ausgeglichene Entwicklung der Allgemeinheit, die die erwirtschafteten
Profite anteilig in soziale und gesellschaftliche Absicherung investieren
könnte. Oben wird abgeschöpft, verzinst und abgelegt, an der
Basis wird nur eine gewisse Geldmenge in Umlauf gehalten."
"Ich weiß, wie das drüben läuft. Ich habe Marx
und auch Engels gelesen. Ich glaube ich habe den dialektischen Materialismus
verstanden. Ist es nicht gut, wenn einzelne Menschen die Möglichkeit
haben reich zu werden? So richtig reich, denk doch mal?"
"Warum nicht, aber das funktioniert doch nur, wenn man den Anderen
dadurch nicht einschränkt."
"Es funktioniert auch anders, wie die Imperialpolitik gezeigt hat."
"Moralisch war das nie zu vertreten."
"Es brauchte sich ja auch niemals jemand rechtfertigen. Die Sieger
stellten doch schon immer auch die neuen Moralvorstellungen."
"Drüben heißt die Moral auf jeden Fall DM. Kaum einer
hat Hemmungen sich die unmöglichsten Wünsche zu erfüllen,
wenn man sie bezahlen kann. Drogen, Sex, Gold oder die einfache Lust
etwas zu besitzen, obwohl man es nicht braucht. Man kann sich bei der
Fülle der Möglichkeiten auch nur begrenzt dagegen wehren.
Dein Auge sieht, deine Zunge schmeckt und deine Nase riecht, du bist
bereit ständig zu konsumieren. Richtig abschalten geht nur durch
weiteren hohen finanziellen Aufwand, der dich wieder unter Stress stellt.
Was ich dir sagen will ist, dass ich mir da drüben ganz schön
alt vorgekommen bin. Es war, als wäre ich ein alter Mann, der plötzlich
in der Zukunft steht und seine alte, einfache, heile Welt nicht mehr
wieder finden kann und nichts mehr richtig versteht, von dem was er
sieht. So ging´s mir, ich bin völlig durcheinander. Ich bin
fast vier Wochen in Westberlin gewesen und ich habe mich erst Vorgestern
entschlossen zurückzugehen. Ich glaube, ich habe sehr viel verstanden.
Susanna kam jedenfalls abends um 22°° wieder nach hause, sie
war mit Drogen voll gepumpt, ihre Augen waren glasig und ihre Pupillen
waren ganz klein. Aber sie war lustig. Es hat nur zehn Minuten gedauert,
bis ich das Thema auf ihre Sucht gelenkt hatte. Ich war neugierig und
auch besorgt. Denn Tablettensucht war für mich nichts Neues. Sie
nahm Heroin und trank reichlich Alkohol, wenn sie nichts anderes hatte.
Ihre zerstochenen Arme habe ich erst viel später gesehen. Wenn
ich nicht so blöd gefragt hätte, wäre die Nacht wohl
noch anders verlaufen.
Erst sagte sie, dass sie Heute nicht darüber sprechen wollte und
ich nervte weiter. Ich war zu schnell, ich hatte mich in sie verliebt
und wollte sofort meine Besorgnis zeigen. Sie fing an zu heulen.
Ich fragte aufgeregt: "Willst du denn nichts daran ändern?"
Es war eine Frage, die sie schon zu oft gehört hatte. Klar wollte
sie was daran ändern, doch wo anfangen. Sie heulte und ich versuchte
sie zu trösten und ihr zu erklären, dass ich im Augenblick
nicht wusste, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Es war eine
blöde Frage.
Susanna fing jetzt trotzdem an, mit mir darüber zu sprechen. Therapieplätze
hatte sie schon angeboten bekommen, aber bisher hatte sie vorher gekniffen.
Sie hat die Schule geschmissen und ist abgetaucht. Ihre Eltern hatte
sie schon ein halbes Jahr nicht mehr besucht. Es ist alles so verdammt
verworren. Sie ist noch ein Kind und ich bin im Grunde noch ein Kind
und wir sind beide schon dabei unser Leben aus den Händen zu geben.
Kapierst du das? Ich bin losgefahren, um das Schicksal herauszufordern
und habe den Himmel gefunden, aber wir beide stehen mit den Füßen
in der Hölle und verbrennen langsam.
In dieser Nacht haben wir beide verstanden, dass das Leben auch für
uns etwas Besonderes bereit hält, wir müssen nur verstehen
damit umzugehen. Wir haben geredet und geredet.
Am Mittag sind wir dann wieder aufgestanden und sie wollte sofort los
Stoff besorgen. Nichts von der Euphorie der Nacht war übrig geblieben.
Ich konnte es nicht lassen, sie daran zu erinnern und wir haben uns
gestritten, als kannten wir uns schon Jahre.
Wir haben in der Nacht nicht miteinander geschlafen, aber nachdem wir
uns fast geprügelt haben sind wir später übereinander
hergefallen. Ich habe so etwas noch nie erlebt, es war ein echter Liebesrausch.
Abends ging es ihr dann schlecht. Sie hatte einen "Turkey",
so nennt man die Entzugserscheinungen. Die Typen aus ihrer Wohnung haben
mir dann ein paar Tipps gegeben, wie ich mich um sie kümmern kann.
Es war die Hölle. Jetzt habe ich geredet und geredet und ihr fast
jeden Tag meines Lebens erzählt, es schien sie zu beruhigen. Irgendwann
ist sie eingeschlafen und ich habe mich auch hingelegt.
Wir haben vier Tage lang die Wohnung nicht verlassen. Ich bin einkaufen
gegangen und habe gelesen und ferngesehen. Sie war schwach und musste
ständig heulen, ansonsten hat sie viel geschlafen. Ich habe noch
nie etwas Schöneres empfunden als die Liebe zu ihr.
Wenn ich morgens aufgewacht bin, dann sangen die Vögel auf dem
Hinterhof. Die Wohnung war im dritten Stock, ich habe direkt in die
Baumwipfel gesehen. Susanna ging es nach dem fünften Tag deutlich
besser und wir sind endlich wieder in die Sonne gegangen. Draußen
in der Stadt tobte das Leben. Wir sind in den Schlosspark gegangen und
haben uns stundenlang nur geküsst. Abends sind wir das Erste Mal
ausgegangen. Berlin bei Nacht. Tausend Läden in denen du Essen
oder tanzen kannst, Kinos, Bars und Kneipen, es ist irre.
Mir ist schnell klar geworden, dass eigentlich niemand in der Lage war,
ihr zu helfen, solange sie nicht den wirklichen Willen hat aufzuhören.
Aber so ist das überall da drüben. Wenn du nicht selber alles
in die Wege leitest, dann stehst du dumm da.
Ich habe verdammt viele junge Leute in den vier Wochen kennen gelernt
und die Meisten hatten Probleme einen Weg zu finden, der nicht nur dem
entspricht, den man ihnen auf die gesellschaftliche Fahrbahn gemalt
hat.
An der Oberfläche glänzt alles, aber hinter den Kulissen,
sieht's genau so beschissen aus wie bei uns, die Deutschen sind hier
wie da die Gleichen, stur und obrigkeitstreu.
Als es Susanna besser ging, haben wir mehrere Ärzte aufgesucht,
ich hatte mich noch immer nicht gestellt.
Ich habe mir alles in Westberlin angesehen, vom Zoo bis zum Arbeitsamt.
Ich habe jetzt vielmehr über die BRD erfahren, als mir alle Offiziellen
von uns weiß machen wollen.
Wenn du dich dem Leistungsdruck unterwerfen kannst und weißt wie
der Hase läuft, bist du drüben ein relativ freier Mensch.
Besser ist noch, wenn du was von Zuhause mitbekommst, dann hast du keine
Existenzprobleme. Aber wenn du von der wirklichen Freiheit träumst,
dann wirst du sie auch da drüben nicht finden.
Die Menschen stehen alle unter Stress. Zeit ist Geld.
Zwei Wochen waren vorbei und Susanna und ich schwebten auf einer Wolke.
Sie war vorerst clean und wir haben einen Therapieplatz gefunden. Das
bedeutete aber, sie musste unter Verschluss. Keine Besuche, keine Kontakte.
Ich habe sie dazu gedrängt und ich glaube sie war fest entschlossen.
Ich stand plötzlich mit völlig leeren Händen da. Der
Abschied war schwer.
Eigentlich war jetzt der Punkt gekommen, wo ich mich stellen musste.
Was sollte ich hier jetzt noch, als Namenloser.
Ich hatte ihr geschworen auf sie zu warten. Ich hatte keine Ahnung,
was passieren könnte, wenn ich mich den Behörden stelle. Ich
bin drei Tage durch die Stadt geirrt, Tag und Nacht.
Die Stadt ist schnell. Ich habe immer mehr Angst bekommen, vor dem was
ich sah und von dem was ich gelesen habe. Mein Kopf sagte mir, dass
ich ein Fremder in einer völlig fremden Welt bin.
Auf einmal dachte ich nur noch an mein Zuhause und fing an mir einzureden,
dass sie mich bei uns verstehen werden, wenn ich zurückgehe. Na
klar, ich bin 17, nicht volljährig und ich hatte nichts getan,
was irgendjemanden in Gefahr gebracht hätte. Es war doch nur ein
kurzer Traum, gegen den doch niemand etwas haben konnte."
Ich warf ein: "Ich wäre zwar nie losgegangen, aber wenn, dann
wäre ich nie zurückgekommen."
"Das sagst du. Ich war drüben und ich weiß, dass da
die Freiheit wohnt, doch sie ist nicht so einfach zu finden und wenn
du nicht aufpasst, akzeptierst du alles was glitzert und vergisst alle
menschlichen Werte. Hier musst du funktionieren, drüben musst du
besonders gut funktionieren. Wer nicht mitmacht stirbt."
Ich: "Quatsch, du übertreibst."
"Nicht leiblich ! Dein freier Geist. Alle rennen und produzieren,
reißen die Bäume vor ihren Türen raus und planieren
die Landschaft. Sie handeln mit Waffen wie wir und sie sehen ihre politischen
und vor allem wirtschaftlichen Ideale als das Größte an.
Ich habe kaum einen Sinn darin finden können. Vielleicht hätte
ich es gelernt. Aber das Wichtigste ist mir natürliche Ruhe, Verständnis,
Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Zeit, Zeit zum Leben und darüber
nachzudenken.
Als ich wusste, dass ich zurückgehen würde, habe ich geheult..."
"Wegen Susanna."
"Natürlich, aber auch weil ich mir eingestehen musste, dass
ich die Angst dort zu versagen nicht bewältigen konnte. Nur um
gewisse angebliche Vorzüge dieses Systems zu genießen, konnte
ich doch nicht meine Freunde, den See, unser Dorf und meine Verwandten
für immer verlassen. Das waren doch viel höhere Werte, als
alles was da sonst noch möglich ist.
Wenn Susanna in diesem Augenblick nicht so unerreichbar gewesen wäre,
ich wusste ja, dass die Kontaktsperre für mindestens ein halbes
Jahr andauert, dann hätte ich es mir bestimmt anders überlegt.
Es rückte aber alles in so eine Ferne. Schon nach drei Tagen war
ich überzeugt davon, dass ich selbst, wenn ich hier bleiben würde,
sie nie wieder sehen könnte.
Ich bin ein Schwachkopf, denn letzten Endes habe ich geglaubt, dass
man mir hier verzeihen wird und ich könnte ihr Schreiben und irgendwann
einen Ausreiseantrag stellen.
Als ich am letzten Tag aufwachte und wieder auf den schönen Hinterhof
in der Sophie Charlotte Straße sehen konnte, genau in die Krone
der sonnendurchfluteten Kastanie, fielen mir alle unsere Picknicks am
See und in den Wäldern ein und ich hatte Heimweh, wie nie zuvor.
Westberlin ist klein und eng. Ich möchte die Stadt nicht im Winter
erleben.
Ich hätte auch noch länger in der Wohnung bleiben können,
die Anderen hatten nichts dagegen, wenn ich hier bleiben wollte, ich
müsste nur die Miete bezahlen. Ihnen hatte ich meine Geschichte
nicht erzählt und Susanna hatte dicht gehalten.
Um zwölf bin ich los..."
Ich: "Highnoon."
"Echt Alter, so kam es mir vor...
Ich bin zum Checkpoint Charlie. Raus aus der U-Bahn, stinkender Verkehr,
vor mir liegt die Grenze. Erst mal die von drüben. Ich hab schon
überlegt, was ich den sage, vielleicht lassen die mich ja gar nicht
zurück. Weiter hinten habe ich schon die Vopos gesehen. Ich war
schweinenervös.
Also, ich gehe an die Passbude wo die Autos ranfahren, ich wusste gar
nicht wo die Fußgänger rüber müssen. Ich hab auch
nicht geguckt. Ich wollte nur noch zurück.
Anscheinend brauchte hier kein Auto anzuhalten. Ich laufe vorbei an
den Grenzern aus dem Westen, kurz danach kommt jemand aus der Bude und
ruft: "Halt!" Ich bin losgerannt.
Die auf unserer Seite haben mich sofort bemerkt und bevor ich an unserer
Grenzbude war, standen schon zwei Grenzer mit ´ner Kalaschnikow
vor mir. Sie haben mich sofort abgeführt und durchsucht.
Es dauerte eine halbe Stunde, ich saß in einer Zelle, bis dann
ein Ziviler kam. Und dann ging´s los. Erst waren sie verdammt
freundlich. Ich hab mich in Sicherheit gewiegt und bereitwillig erzählt.
Doch nachher kamen andere Jungs, die waren härter. Die haben mich
zusammen geschrien und geprügelt. Ich war völlig fertig."
"...und sie haben dich gehen lassen?"
"Spinnst du? Es war Zufall. Die haben mir klargemacht, was auf
Republikflucht steht und dass ich die nächsten zehn Jahre nach
Bautzen einfahren werde. Ich habe gezittert.
Als sie mich dann abholten, kamen wieder andere Vopos, sie haben gedacht
ich bin zerbrochen. Ich sah auch bestimmt fertig aus. Sie haben mich
nicht gefesselt, einer hielt mich am Arm fest und sie gingen mit mir
über den Grenzstreifen zu ihrem Trabbi. Als ich dann einsteigen
sollte und nur noch ein Vopo direkt bei mir war, habe ich ihn weggeschubst
und bin losgerannt. Anscheinend haben sie ihre Knarren nicht so schnell
aus der Tasche bekommen, sie haben nur gerufen, dass sie schießen
werden.
Ich bin wie ein Irrer in die nächste Straße gerannt. Sie
haben mich nicht gekriegt. Jetzt bin ich hier und werde gesucht"
Ich: "Was willst du machen, du kannst dich nicht ewig verstecken."
"Ich weiß es nicht, erstmal will ich zu meiner Mutter, ich
muss mit ihr reden."
Die Story war einfach irre. Ich musste sie glauben, aber ganz automatisch
wollte ich sie nicht wahrhaben.
Benni hat noch etwas gegessen und ist am Abend wieder abgehauen. Verdammt,
war ich durcheinander. Ich glaube er hatte mich noch nie belogen und
nicht nur deshalb weil wir so wenig miteinander zutun hatten.
Er war ehrlich. Wenn das aber alles stimmte, was er erlebt hatte, dann
war es die Story des Jahres und nicht nur für uns im Kiez, sondern
für die gesamte Öffentlichkeit.
Aber ?
Damals kamen die Abers ganz schnell. Wer sollte so was denn veröffentlichen?
In der Nacht heulten ein paar Sirenen, ich habe es nur von anderen gehört.
Niemand konnte sagen was los war. Jedenfalls habe ich nach einer Woche
Bennis Mutter besucht. Ich wollte wissen, was los war. Sie hatte ihn
jedoch schon wochenlang nicht mehr gesehen. Ich habe ihr dann erzählt,
was er mir erzählt hat und sie war erschrocken. Anscheinend war
er nicht mehr bei ihr angekommen.
Sie hat sich dann bemüht, bei den Offiziellen nachzufragen, doch
monatelang bekam sie keine Antwort. Dann ist sie vorgeladen worden.
Man hat sie ausgefragt und ihr mitgeteilt, dass ihr Sohn unauffindbar
ist.
Seit einem Jahr versuche ich den Vorgang von Benni in den alten Stasiakten
zu finden. Und seitdem ich mich wieder mit der Vergangenheit auseinandersetze,
fühle ich mich wie ein Schwein. Ich hätte damals mehr für
ihn tun können. Wir alle, die wir uns Heute so frei und deutsch
fühlen, hätten schon viel früher unseren Mund aufmachen
müssen.
Bennis Akte scheint wie er selbst unauffindbar. Ich habe ihn niemals
wieder gesehen.
Ich lebe heute noch in diesem Land und nicht selten erinnere ich mich
an seine unglaubwürdige Erzählung und den Konflikt, den er
erlebt hat. Er war ein verdammt dufter Junge.
Heute weiß ich genug, über die alten Stasipraktiken, um davon
ausgehen zu können, dass sie ihn ermordet haben. Wie heißt
es so schön: "Auf der Flucht verunfallt."
Benni hat damals einen Schritt getan, den wir alle einmal tun wollten.
Und wenn wir alle die Möglichkeit gehabt hätten, dieses Drüben
zu sehen und darüber nachzudenken, dann wären wohl die Wenigsten
wirklich dort geblieben. Wir hätten unseren Staat später niemals
verkauft.
Wir alle waren doch der Staat und wir hätten zumindest unsere Würde,
die wir 89 zurückerobert haben, nicht sofort den neuem Herrn Mammon,
opfern dürfen.
Heute verstehe ich Bennis Empfindungen und ich könnte heulen, dass
wir dem alle so machtlos gegenüber gestanden haben, aber daran
hat sich nichts geändert, wir sind jetzt angeblich zu besseren
Deutschen geworden, aber kaum zu besseren Menschen.
Die Lasten der Vergangenheit sind kaum abzuschütteln und die Lasten
der Gegenwart sind grenzenlos geworden.
Ich glaube mit der DDR ist auch ein Stück unserer Menschlichkeit
verloren gegangen. Die Unfreiheit, die man uns jetzt übergestülpt
hat, lässt sich kaum noch als Gegner definieren. Man kann ihn nicht
greifen.
Dieser Staat funktioniert so reibungslos an den Menschen vorbei, wie
einst der Alte und er reißt die Menschen in einen Strudel der
wirtschaftlichen Existenzkämpfe. Niemand ist übrig geblieben,
der den Sinn unserer Vergangenheit verteidigt.
Benni ist tot und mit ihm ist die tiefere Bedeutung unseres "Vaterlandes"
begraben worden.
Vielleicht war er der Einzige, der dahinter gekommen war, dass wir gute
Gründe hatten unsere Gesellschaft zu reformieren, aber sie nie
aufgeben sollten.
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