POLITISCHE LITERATUR / DAS POLITISCHE IN DER
LITERATUR / LITERATURPOLITIK
Einige Notizen zum Thema
Von Dirk Hülstrunk
1. Ausgangspunkt: Was ist oder war bisher politische Literatur?
Politische (häufig synonym mit
"engagierter") Literatur unterscheidet sich von sog. unpolitischer Literatur
dadurch, daß sie:
-gesellschaftliche/ politische Zustände thematisiert
-diese Zustände kritisch reflektiert (Gesellschaftskritik)
-diese Zustände vor dem Hintergrund eines bestimmten (ideologischen) Wertesystems
"bewertet" (Moral)
-zweckgerichet ist, die kritisierten Zustände verändern will (Ziel:
Gesellschaftsveränderung)
-eine Utopie eines gesellschaftlichen Idealzustandes besitzt.
-didaktisch ist. Sie will ihre Leser erziehen
-solidarisieren kann
Politische Literatur ist niemals ästhetischer Selbstzweck. Ästhetische Gestaltung dient als Mittel zu einem anderen Zweck, z.B. Gesellschaftsveränderung. D.h. sie will und muß etwas aussagen, eine message haben, sie muß verständlich sein und Sinn machen. Da sie etwas bewirken will, muß sie auf ein möglichst breites Verständnis abzielen. (Eine Literatur, die nur gesellschaftliche Mißstände kritisiert oder wertfrei beschreibt, ohne auf eine Veränderung abzuzielen, ist im strengen Sinne keine politische Literatur.)
Gesellschaft kann man in sehr viele Richtungen verändern wollen. Insofern sagt der Terminus politische (engagierte) Literatur/ Kunst nicht viel über deren Bewertbarkeit. Ob es sich hierbei um die "bessere", "notwendigere", "sinnvollere" Art von Literatur handelt, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab.
Politische Literatur kann jeden möglichen politischen Standpunkt und jede Ideologie einnehmen. Als Gebrauchsobjekt ist sie benutzbar, aber auch gegen ihre Intention verwendbar (mißbrauchbar). Zudem ist sie, insbes. bei häufiger Verwendung der Abnutzung unterworfen.
Die Fragestellung, was politisch an der heutigen Literatur sei, geht implizit von einem bestimmten Bild politischer Literatur aus. Schon in der Frage steckt verborgen die Wertung, daß eben doch politische Literatur die wichtigere, bedeutsamere, notwendigere sei. Gleichzeitig schimmert unausgesprochen ein Idealbild der Literatur und Kunstszene der 60er Jahre durch und damit eine ganz bestimmte politisch/ ideologische Ausrichtung, deren ideologischer Bogen von der Aufklärung bis Marx reicht und die sich an humanistischen Idealen wie Gerechtigkeit, Freiheit, klassenloser Gesellschaft, Frieden usw. orientiert.
In wiederkehrenden Phasen tauchen Argumente auf für die Notwendigkeit politischer Literatur und alternierend für die Notwendigkeit einer freien Kunst, die keinem Herren und keiner Moral verpflichtet ist.
2. Von der politischen Literatur zum Politischen in der Literatur
Was meint "das Politische in der Literatur"? Offensichtlich ist zu unterscheiden zwischen einer Literatur, die sich selbst als explizit politisch versteht (mit den oben skizzierten Eigenschaften) und einer Literatur an der irgend etwas politisch ist. Explizit politische Literatur hat den Nachteil, daß sie häufig nicht besonders literarisch ist. Das literarische, gestalterische, künstlerische Element sind ja der politischen Idee nachrangig. Diese Nachrangigkeit ist für ernsthafte Künstler auf Dauer kaum hinzunehmen. Die Versuchung ist daher groß, sich an einem Kompromiß zu versuchen. Die Kunst von der Zweckdienlichkeit befreien, gleichzeitig aber irgendwie Politisches zu transportieren. Politisches Bewußtsein ohne Handlungsanleitung und Utopie. Politik als Versatzstück.
Im Grunde müßte man erst definieren, was überhaupt politisch ist. Was ist Politik? Oder umgekehrt: was ist unpolitisch? Bin ich unpolitisch, wenn ich keine Tageszeitungen lese? Sind Naturlyrik, Liebesgedichte unpolitisch?
Kann es nicht sein, daß klassisch politische Literatur in dem Moment unpolitisch wird, wo sie ihre Wirkung (Gesellschaftsveränderung/ Solidarisierungseffekt) verliert? Ebenso wie möglicherweise die Politik selbst unpolitisch wird, wo sie ihre Handlungskompetenzen an andere Bereiche abgeben muß (z.B. Multinationale Konzerne, globale Sachzwänge usw.).
Und kann nicht ein hingerotztes Liebesgedicht plötzlich politisch werden, wo es ein Lebensgefühl ausdrückt. So wie auch die Rap-Poesie ein Lebensgefühl ausdrückt. Oder die Sprache der Gosse?
3. Wie politisch ist die Kunst / Literatur in den 90ern
Wenn man die Literatur und Kunst der 90er mit jener der 60er Jahre vergleicht, so bekommt man in der Tat den Eindruck, daß eine Entpolitisierung stattgefunden hat. Die großen gesellschaftlichen Themen haben an Relevanz verloren haben und werden ersetzt durch Selbstreflektion, Autobiographisches, Ichbespiegelung, zeitgeistiges Wortgeklingel.
Revolution? Utopie? Gesellschaftsveränderung? Fehlanzeige.Statt dessen: Überleben, Durchwursteln, Pragmatismus. Ich habe jedoch den Eindruck, daß diese Entwicklung keine spezifische der 90er Jahre ist, sondern bereits in den 70er Jahren einsetzte und spätestens seit dem Abebben der großen politischen Widerstandsbewegungen (Friedensbewegung, Anti-AKW/Umweltbewegung) in den 80ern voll ausgeprägt war. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die Wiedervereinigung Deutschlands taten ein übriges. Folge: kompletter Ideologieverlust, Desillusionierung und Ziellosigkeit/Orientierungslosigkeit kritisch denkender Intellektueller und Künstler.
Politische Literatur ist angewiesen auf:
-einen erkennbaren Feind, einen gesellschaftlichen Zustand, dessen Ursachen benennbar und
bewertbar sind.
-auf eine Alternative, eine Utopie, einen Gegenentwurf zu den kritisierten Zuständen
-auf eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, eine Moral
Diese Voraussetzungen sind in den 90er Jahren kaum noch zu haben. Wer ist der Feind? Die Politiker? Die Bonzen? Die Amis? Was ist gut? Was ist böse? Wo sind die Gegenentwürfe? Die weltweite Vernetzung der Strukturen und die extreme Spezialisierung auf allen Gebieten führt zur Auflösung individueller Autoritäten und zum Abrutschen der Entscheidungsmacht in anonyme Gremien, Ausschüsse, Beiräte usw. Deren einzelne Teilnehmer übernehmen nur sehr begrenzte Haftung und sind kaum je verantwortlich zu machen. Politische Macht läßt sich kaum noch an einzelnen Personen festmachen. Sie wird zunehmend von (selbstgeschaffenen) Strukturen und Selbstzwängen bestimmt, denen gegenüber der einzelne Mensch nahezu machtlos erscheint, die politischen Repräsentanten dieser Republik Strohpuppen ohne wirkliche Macht.
Die Macht selbst ist anonym. Natürlich könnte man sagen, die Wirtschaftsbosse regieren den kapitalistischen Weltstaat. Doch auch hier ist Verantwortung kaum noch auszumachen. Bei international verzweigten Wirtschaftsimperien sind es nicht einzelne Führungspersönlichkeiten, die die Macht ausüben, sondern ein Heer von Verwaltern, Angestellten.
Auch das Moralische selbst ist in Verruf gekommen. Humanistisch engagierte Menschen werden abfällig als "Gutmenschen" bezeichnet, überhaupt jede Aktion, die sich an den Werten von Aufklärung, Humanismus etc. orientiert, läßt sich mit dem Begriff "political correctness" niederwalzen.
Gleichzeitig haben auch Künstler und Literaten gemerkt, daß der berüchtigte moralische Zeigefinger ein Kunstwerk ziemlich verschandeln kann und obendrein in der Regel völlig wirkungslos ist, im besten Falle auf das Einverständnis ohnehin schon Überzeugter trifft.
Kann Kunst/ Literatur heute überhaupt "Gesellschaft" verändern? Ich glaube kaum. Der klassischen politischen Literatur, die ich oben skizziert habe, ist sowohl der klar sichtbare Feind abhanden gekommen, wie auch die Zielvorstellungen und Gegenentwürfe.
Welche Funktion kann (das Politische in der) Literatur heutzutage noch haben? Ich denke, die zentrale Funktion von Literatur und Kunst liegt nach wie vor in der Reflexion individueller und kollektiver/ gesellschaftlicher Zustände und der Bewußtseinsbildung. Sie reagiert auf Veränderungen eher, als diese zu erzeugen. Insofern stellt auch die Literatur der 90er ganz klar eine Reaktion auf gesellschaftliche Zustände dar: indem sie nämlich genauso zersplittert ist wie die Gesellschaft. Alles scheint m"glich, andererseits war alles schon mal da, und eigentlich interessiert sich keiner dafür, so der Eindruck. Bei genauerer Betrachtung erscheint gerade die Literatur als besonders konservativer Bereich der Kunst. Anders als in der bildenden Kunst oder der Musik haben die avantgardistischen Innovationen von Dada, Futurismus, Surrealismus, Konkrete Poesie, Cut-up usw. wenig Einfluß auf den literarischen Mainstream gehabt. Der dicke realistische Roman dominiert den Markt und der Roman überhaupt scheint nicht totzukriegen zu sein und im Literaturbetrieb die einzig gefragte Form, je dicker, desto wertvoller.
Daneben existieren jede Menge subkultureller Szenen, die in der Regel über weitaus phantasievollere Formen der Literatur verfügen, in denen wüst experimentiert wird, in denen eher der schnelle, harte, kurze Text gefragt ist, und in denen auch ein politisches Bewußtsein zu finden ist. Ein Bewußtsein für gesellschaftliche Prozesse und Phänomene wie: Arbeitslosigkeit, Ökologie, Gewalt, Multikultur usw. Gerade in der jüngeren Literatur, der Underground- und Szeneliteratur werden diese Phänomene reflektiert, ohne daß sich daraus Handlungsanleitungen oder eine Moral zusammenbasteln ließen. Aber diese Phänomene sind da, sind präsent. Es wäre auch ein Wunder wenn nicht, da doch gerade die 90er Jahre (weitaus mehr als noch die 80er Jahre) geprägt sind von Sozialabbau, Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge, Armut, Umweltkatastrophen, Erstarken des Rechtsextremismus, Multinationalen Konzernen usw., sowie der Unfähigkeit der klassischen Politik darauf angemessen zu reagieren. Die Texte der jüngeren Generation spiegeln oft genau das: Kälte, Härte, Schnelligkeit, High-Tech und Low-Life. Es ist eine Tendenz festzustellen, weg von abstrakten, akademische Wortspielen und den großen konzeptionellen Entwürfen zur kleinen dreckigen Story/ Gedicht, zum Textsampling, zur genreübergreifenden Zusammenarbeit, zur Unabhängigkeit vom Markt. Echtheit und Authentizitismus werden gefordert, so etwas wie "Street-Credibility", ähnlich wie in der Hip-Hop-Kultur.
Literatur ist vor allem eine Form von Kommunikation. Kommunizieren kann ich aber nicht mit abstrakten Strukturen z.B. "der Gesellschaft", "dem Kapitalismus". Kommunikation in Literatur/ Kunst funktioniert in erster Linie auf der Ebene von Mensch zu Mensch, von Individuum zu Individuum. Daran, daß Poesie die Gesellschaft verändert, glaube ich nicht so recht. Daß sie Menschen verändern kann, daran habe ich keinen Zweifel. Einzelne Gedichte, Werke, Texte können auf kleinem Raum eine ungeheure Wirkung entfalten, aus Lebenskrisen retten, aber auch in Lebens/ Sinnkrisen stürzen, sie können die Wahrnehmung der Dinge nachhaltiger verändern, als der Genuß von LSD, Extasy oder anderer Rauschdrogen. Daher macht es auch Sinn, politisches Bewußtsein zu transportieren. Ein Bewußtsein, das wach bleibt, für gesellschaftlich politische Prozesse ohne, daß es einen konkreten politischen Zweck bef"rdert. Das wache Bewußtsein selbst, die Neugier an Menschen und ihrem Kommunikations- und Sozialverhalten sind ohnehin für mich selbstverständliche Grundlagen jeder ernsthaften künstlerischen Tätigkeit.
4. Literatur & Politik = Literaturpolitik
Wenn wir schon von Literatur und Politik reden, sollten wir auch über die "Literaturpolitik" reden. Kultur wird als Kulturpolitik betrieben, ein großer Teil der gesamten deutschen Kulturszene ist von öffentlichen F"rdergeldern, Subventionen, Preisen, Stipendien abhängig. Daneben betreiben auch die großen Konzerne und natürlich die Medien Kulturpolitik. Diese Art von Kulturpolitik hat mit Demokratie wenig zu tun. Ihre Förderprinzipien sind undurchschaubar, die Entscheidungsgremien in keiner Weise demokratisch legitimiert. Ihre Auswahl ist willkürlich oder auf Vermarktbarkeit ausgerichtet (was sich nicht widerspricht). Häufig werden willkürlich einzelne Literaten herausgefiltert und dann zu Kulturbetriebsvertretern aufgebaut, mit Image versehen usw. Die meisten Interessierten müssen allerdings draußen bleiben.
Literatur ist, wie alles andere auch in der kapitalistischen Dienstleistungsgesellschaft, eine Ware. Ihr Wert mißt sich an der Verkaufbarkeit. Leider ist Literaturkonsum ein Minderheitenvergnügen. Der Markt ist begrenzt und um ihn tobt ein heißer Konkurrenzkampf der Verlage und Literaten, bei dem künstlerische Qualität nur eine Nebenrolle spielt. Wer sich nicht in Marketingstrategien einspannen läßt, ist draußen oder kommt gar nicht erst rein. Auch die, die es hinein geschafft haben, k"nnen schnell wieder hinausfallen. Auf den Inhalt kommst es nicht an. Ob Kochbuch, Biographie, Kom"die, Zen-Weisheiten, Kapitalismuskritik - alles Ware und bei entsprechender Verpackung und Bewerbung prinzipiell verkaufbar. Wichtiger ist, das permanent (angeblich) "Neues" produziert wird und (angeblich erkannte) Zielgruppen bedient werden, die wiederum Geld für das Kulturprodukt ausgeben. Wie in der Bekleidungsindustrie, der Musikindustrie wechseln sich Moden ab. Der Historische Roman, Die Neue Innerlichkeit, Trash-Stories oder auch Politisches (siehe Heiner Müller, Brecht, Heine).
Der Markt hat zwei sehr wirkungsvolle Methoden mit
Systemkritik umzugehen:
1) Ignorieren
2) Umarmen und kommerzialisieren/kaufen
Ignorieren ist die Standard-Methode und trifft das Gros aller Schreibenden, die die Öffentlichkeit suchen. Die Frage der Fortgeschrittenen ist: wie komme ich an die Öffentlichkeit ohne kommerzialisiert zu werden. Dieses Problem, an dem so viele, gerade innovative Literaten gescheitert sind, hat jedoch in den letzten 25-30 Jahren eine Entwicklung in Gang gesetzt, die durchaus bemerkenswert ist und die in den 90ern einen besonderen Schwung bekommen hat.
Neben dem kommerziellen Literaturbetrieb hat sich ein zunehmend größerer alternativer Literaturbetrieb gebildet. Die Entwicklung dazu begann schon in den 60ern im Rahmen der Idee der "Counterculture". Wenn sich die Gesellschaft nicht von Grund auf umkrempeln läßt, muß man sich in ihrem Rahmen Freiräume schaffen. Die Hippiekultur war die deutlich sichtbare Gegenkultur. In der Literatur und Kunstszene ist die Mail-Art, vor allem seit den 70er Jahren, ein Alternativkunstphänomen, das stetig wächst. Gleichzeitig hat der alternative Literaturmarkt mit Klein- und Kleinstverlegern einen immer größeren Zulauf gefunden. Seine Attraktivität für Literaten besteht in der weitgehenden Offenheit. In diese Szene irgendwo hineinzukommen ist nicht sehr schwierig. Manche Zeitschriften sind - gemäß dem Mail-Art-Prinzip - sogar prinzipiell offen für alle, die sich beteiligen wollen. Es gibt keine Auswahl.
In den 70ern und 80er Jahren war die Szene ziemlich zerfasert und verschwommen und hatte ein bißchen den Ruf der Literaturbetrieb für Freizeitpoeten und Minderbegabte zu sein.
In den 90er Jahren ist hier ein neues Selbstbewußtsein erwacht. Neben zahlreichen neuen Kleinverlagen und Zeitschriften, haben einige bundesweite Underground-Festivals die Szene motiviert und die Vernetzung vorangetrieben. Aus den bundesweiten Festivals haben sich zahlreiche lokale Ableger gebildet, die in ihren Regionen Veranstaltungen organisieren oder anderweitig alternative Literatur verbreiten.
Obwohl es innerhalb dieser Szene z.T. auch einen inhaltlich-politischen Anspruch gibt, wie bei einigen "Social-Beat" AutorInnen, scheint mir die wirkliche politische Bedeutung der Szene eher in dem Prinzip der Selbstorganisation zu liegen, darin, daß hier aus eigener Kraft ein eigener Markt, ein eigenes Publikum, eigene Distributionsformen geschaffen werden. Wer sich ein wenig umschaut, wird bald entdecken, welch großes künstlerisch wertvolles Potential - gerade unter den Jungen - der kommerzielle Markt brachliegen läßt.
Entscheidend für die Kommerzialisierbarkeit oder nicht Kommerzialisierbarkeit sind nicht die (mehr oder weniger radikalen) Inhalte als die Distributionsform. Wer in seinem stillen Kämmerlein auf seinem "revolutionären" ersten Roman hockt und darauf wartet, von einem Verleger oder Agenten entdeckt zu werden, hat sich ja bereits mit den Gesetzen des Marktes einverstanden erklärt und akzeptiert die willkürlichen und autoritären Strukturen des etablierten Literaturbetriebes.
Wer sich hingegen selbst organisiert, übernimmt für sich auch die Verantwortung und hat die Möglichkeit bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse zu vermeiden. Das demütigende Anbiedern an die Repräsentanten des Marktes wird unnötig.
Doch wie kommen die selbstorganisierten alternativen Poeten an ihr Publikum? Sich untereinander vernetzen und auszutauschen ist ein Schritt. Das ist die Öffentlichkeit untereinander. Literaten sind das Publikum von Literaten. Jeder ist in einer Doppelrolle, sowohl Produzent, als auch Konsument. Dieser vielgeschmähte "eigene Sumpf" ist aber eine wichtige Erfahrung. Hier bekommt man zum ersten mal ein Publikum, das über den eigenen Freundeskreis hinausreicht. Hier muß man sich zum ersten Mal, z.T. recht harter Kritik stellen. Denn natürlich sind Kollegen immer besonders mißtrauisch, wenn nicht mißgünstig. Der nächste Schritt ist, aus der eigenen Szene-Nische herauszutreten und ein Publikum außerhalb der Szene zu interessieren. Da die wenigsten Kleinverlage und Zeitschriften über gut organisierte Vertriebe verfügen und auch die Medien zurückhaltend sind, sind es vor allem Lesungen, Performances, Festivals, also Live-Events, die dem alternativen Bereich Publikum zuführen. Wichtig ist es auch, dahin zu gehen, wo Publikum ist, z.B. in Kneipen, in Clubs, in die U-Bahn, auf die Straße. Die Erfahrung hat bisher gezeigt, daß das Publikum durchaus auf die großen Namen verzichten kann, wenn es dafür spannende Veranstaltungen geboten bekommt. Die Markenzeichen der undergroundigen Literaturveranstaltungen sind Lebendigkeit, Spontaneität, Echtheit und Nähe. Was der namenlose Poet/Künstler mit einem ihm unbekannten Publikum anfängt, zeugt vielleicht mehr von der Qualität seines Tuns, als die Preisverleihung durch ein obskures Gremiums aus Literaturwissenschaftlern und Heimatvereinsvorsitzenden. Und hier erweist sich immer wieder, daß Literaturprofis, die zufällig in solchen Zusammenhängen auftreten, vor einem unbekannten Publikum keineswegs den leichteren Stand haben.
Die Schaffung eines solchen unabhängigen, dezentralen, unkommerziellen künstlerisch-poetischen Netzwerkes ist ein gesellschaftspolitisches Ereignis erster Güte.
Wichtig bei der Schaffung eines solchen Netzwerkes ist, daß es prinzipiell offen ist, zwar regional organisiert wird, aber flächendeckend, landesweit und international agiert, bzw. sich mit anderen Netzwerken weiter vernetzt. Wichtig sind überschaubare Strukturen. Daher lieber viele kleinräumige Netzwerke, die wiederum lose miteinander verknüpft sind.
Die Gefahr einer nur regionalen Selbstorganisation liegt auf der Hand. Dies fördert den Wettstreit der Regionen, führt zu Abgrenzungsversuchen und dazu, als regionale Kleingruppe nicht ernst genommen zu werden.
Zum Netzwerkgedanken gehören die Knotenpunkte. Denn nur lokal, regional läßt sich wirklich und sichtbar etwas bewegen. Hier findet die konkrete Arbeit statt, und das konkrete Ergebnis läßt sich besichtigen. Genauso wichtig ist aber, daß die lokalen Szenen überregional vernetzt sind und zudem personell und ideell offen bleiben. Nur so läßt sich das eigene Treiben immer wieder hinterfragen und erneuern. Nicht ist schlimmer als Szenen, die sich cliquenartig abschotten, auf ewig eingefahrenen Gleisen vor sich hinwursteln und deren Hauptkommunikationsform die gegenseitige Selbstbestätigung ist.
5. Netzwerk und Demokratie
Die zugrundeliegende Vision ist eine zutiefst demokratische. Sie geht davon aus, das jeder Mensch ein künstlerisches Potential besitzt und ein Recht dieses auszuleben und sein eigenes Leben kreativ zu gestalten. Das selbstgestaltete Leben kann bereits als künstlerischer Prozeß gesehen werden. Natürlich vermischen sich hier die Begriffe Kreativität, Kunst, Kultur. Dies ist es genau, wovor der etablierte Kunstbetrieb (inklusive etablierte KünstlerInnen) Angst hat. Solange er bestimmen kann, wer ein "echter", "professioneller" Künstler ist (durch Auswahl, Stipendien, Veröffentlichungsm"glichkeiten), solange kann er diese Künstler kontrollieren. Wenn sie die Spielregeln verletzen, werden sie einfach wieder fallengelassen.
Es ist das alte Prinzip von Teile und Herrsche. Kunst wird in unserer Gesellschaft als von der Lebenspraxis abgehobenes Spezialgebiet angesehen, das von Spezialistien ausgeübt wird.
Damit wird gleichzeitig dem "professionellen" Künstler die Möglichkeit genommen auf andere Bereiche des Lebens zu wirken und anderen Menschen Kreativität und künstlerisches Potential abgesprochen. Letztere werden mit einer allumfassenden Pseudokreativität, gestylten und designten Dingen auf allen Ebenen abgespeist, die sie lediglich konsumieren dürfen.
Pseudokreativität vor allem in Werbung und Design, wo sie wenig mit Versch"nerung des Lebens aber alles mit Verkaufsförderung zu tun hat. Wer sich aber eine gestylte Teekanne kauft, ist nicht kreativ, sondern hat bloß zuviel Geld oder fährt auf Statussymbole ab. Echte Kreativität hat eher damit zu tun, wie unabhängig, eigenverantwortlich und bewußt ich mein Leben und meine Umwelt gestalte.
Einige Behauptungen zum Zustand der Lit. in den 90er
-Strenge Trennung: Trivialliteratur (Simmel bis
Stephen King) & Hochliteratur
-Spartentrennung (für grenzüberschreitende Projekte gibt es wenig Spielraum)
-Die Hochliteratur ist stark spezialisiert, intellektualisiert, findet vorwiegend in
zwischen den Koordinaten Hochschulen, etablierte Feuilletons und öffentliche Preise statt
-Literatur als In-Group-Ereignis
-Die Zahl der Schreibenden steigt, die Zahl der Lesenden nimmt ab
-Der Literaturmarkt wird immer undurchschaubarer
-Mangelnder Mut zum Experiment
-Verlage und Literaturveranstalter gehen auf Nummer sicher (bekannte Namen in bekannten
Verlagen mit bekannten Preisen)
-Langweilige Lesungen, Angst vor Spaß und Unterhaltung, großer Ernst, Wehleidigkeit
-Fixierung des Lit-Business auf Romane, Warten auf den Jahrhundertroman, Vernachlässigung
anderer Literaturformen
-Mangel an Geschichten aus dem Alltag
-Entfremdung
-Isolierung und Entsolidarisierung der LiteratInnen im Business, statt Austausch
Konkurrenzangst
-Immer weniger Geld für Literaturveranstaltungen
-keine soziale Anerkennung
-Kunst/ Literatur als Luxusgut für wohlhabende Bürger
-Kultur als Ware
-größter Einfluß/ Mißbrauch in der Werbung
Komisch, daß ich ausgerechnet in letzter Zeit mehrfach auf dieses Thema angesprochen
wurde. Zuletzt fragte mich Jürgen Lentes, der derzeitige Programmacher der Romanfabrik
nach einem Auftritt von mir: "Glaubst Du, daß man mit Literatur die Gesellschaft
verändern kann?" Meine Antwort: Muß das jetzt sein? Eine typische Reaktion, obwohl
ich ein durchaus politischer Mensch bin und mit politischen Texten zu schreiben begonnen
habe.
Ich habe trotzdem nicht besonders viel Lust über dieses Thema zu diskutieren, aber irgendetwas ist in mir, vielleicht ein verborgener verbogener Moralist, einer, der gerne an eine bessere Welt glauben würde, einer der sogar daran glauben möchte, daß man diese bessere Welt mittels seiner Texte erreichen k"nnte. Aber halt! Die "bessere" Welt ist in Wahrheit umgekehrt nur die Welt, die seine Texte und den Schreiber als Person schätzt. Jede Welt, die ihm die Anerkennung zukommen läßt ist die "bessere" Welt. Nochmal Halt! Ich höre die Schreie: Verrat, Verkauf, Egoismus, Kommerz.
Doch ernsthaft: eine Antwort auf die obige Frage steht noch aus. Die Antwort lautet auch nach mehrmaligen Nachdenken: Nein. Ich glaube nicht, daß man die Gesellschaft mit Kunst und Literatur verändern kann. Dazu ist ihre gesellschaftliche und politische Bedeutung zu gering.
Nächste Frage: Muß Literatur politisch sein? Dies setzt voraus, das man den Begriff "politisch" überhaupt mal klärt. Was ist überhaupt politisch. Politisch = moralisch? Politisches Handeln = zweckorientiertes Handeln? Politisches Schreiben = zweckgerichtetes Schreiben. Poesie als Werkzeug (Waffe) zu welchem Zweck?
Eine politische Dichtung müßte demnach konkrete politische Intentionen vertreten, z.B. wählt die Partei XYZ! oder: seid nett zu Ausländern! oder....
Ist das Poesie? Mhm. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht. Eher glaube ich, daß ein Zweck der Poesie sein könnte, keinen unmittelbaren Zweck zu erfüllen. Sich den Zwängen einer zweckgerichteten Welt zu entziehen, Freiheit des "Denkens" zu erm"glichen, überhaupt den Geist "freizusetzen", es zu ermöglichen, die Welt aus den unterschiedlichsten Perspektiven wahrzunehmen. Freiheit des Spiels. Kurt Schwitters: "Wir spielen, bis das der Tod uns abholt." Man kann sehr ernsthaft spielen. Sogar t"dlich ernst. Russisches Roullette z.B.
Also ich glaube nicht, daß Poesie/ Literatur die "Gesellschaft" verändert. Ich glaube nicht, daß die Poesie/ Literatur einen konkreten politischen Auftrag hat, in dem sie eine politische Idee oder Haltung propagiert (gerade dadurch korrumpiert sich sich, in dem sie sich auf Machtspiele einläßt).
Das heißt nicht, daß politische Ideen in der Literatur keine Rolle spielen dürfen und wir nur noch über Bäume schreiben sollten. Obwohl, wie wir wissen, es gibt Zeiten, in denen selbst ein Gespräch über Bäume politisch ist (Brecht). Poesie/Literatur transportiert immer das Bewußtsein seines Schöpfers. Ist dieses ein politisches Bewußtsein, so wird dies in den Texten Niederschlag finden. Politisches oder sagen wir besser gesellschaftliches Bewußtsein heißt aber noch nicht, daß konkrete Handlungsanweisungen gegeben werden müssen.
Zudem ist es sicherlich sinnvoll, wenn sich Literaten, Intellektuelle an den politischen Diskursen beteiligen. Dies scheint gerade unter jüngeren Künstlern in der Tat nicht so in Mode zu sein, wie es in den 60er, 70er Jahren war. Dahinter steckt die Erfahrung, als Individuum und selbst als Gruppe mit halbwegs überschaubarer Größe fast gar nichts mehr politisch bewegen zu k"nnen. Denn politische Bewegungen finden eingentlich nur noch statt, wenn Geld ins Spiel kommt, "konomische Interessen. 3 Leute mit dem entsprechenden Kleingeld und/ oder wirtschaftlicher (Erpressungs)-Macht haben eben weitaus bessere Chancen politische Prozesse zu beinflussen, als Hunderttausende Durchschnittsverdiener, die sich auf Demos die Füße platt laufen.
Es stellt sich die Frage, warum wir überhaupt von Politik sprechen. Und von dem Verhältnis Politik und Literatur. Warum immer noch Politik. Warum nicht gleich Ökonomie? Das Verhältnis von Literatur zur Ökonomie. Hier kommen wir ganz schnell auf den Punkt, daß mit Literatur in der Regel nicht das große Geld zu machen ist, es sei denn, die Literaten sind schon länger tot und Urheberrechte stehen der Warenverwertung nicht mehr im Wege.
Erst vor kurzem veröffentlichten die IG Medien eine Statistik, nach der fast zwei Drittel aller Künstler im Alter von der Sozialhilfe leben.
Welchen gesellschaftlichen Einfluß erwartet man von Leuten, die am Rande der Gesellschaft stehen und die von der Sozialhilfe leben? Na also. Da braucht man sich nicht zu wundern.
Nochmal die Frage: was ist politische Literatur überhaupt? Ich sehe da nicht so klar. Ist eine Literatur, die die gesellschaftlichen Ist-Zustände bejammert politisch? Geht es um Gesellschaftskritik? Oder geht es darum konkrete politische/ gesellschaftliche Ziele zu formulieren? Utopien gar?
An denen fehlt es in der Tat. Aber ist es Aufgabe der Poesie, neue Utopien zu formulieren? Aufgabe sicher nicht. Die Poesie ist kein Dienstleistungsbetrieb im Auftrag politischer Gruppen. Die Qualität der Poesie hat mit ihrer politischen Zielsetzung recht wenig zu tun. Könnte man verlangen, daß eine Poesie humanistischen Idealen entspräche, den Glauben an das Gute im Menschen stärke, das (Völker)-Verbindende hervorheben, das Friedliche, die Liebe.
Keine Frage, eine solche Poesie herzustellen hat es an Versuchen nicht gemangelt. Aber wenn etwas als st"rend empfunden wird, beim Genuß poetischer Werke, dann ist es der moralische, ideologische Zeigefinger.
Ich glaube, Poesie/Literatur/ Kunst funktioniert nur auf der Ebene von Mensch zu Mensch, von Individuum zu Individuum. Daran, daß Poesie Menschen verändern kann, habe ich keinen Zweifel. Sie hat mich verändert und viele, die ich kenne. Einzelne Gedichte, Werke, Texte können auf kleinem Raum eine ungeheure Wirkung entfalten, uns aus Lebenskrisen retten uns aber auch in Lebens/ Sinnkrisen stürzen, sie k"nnen unsere Wahrnehmung der Dinge nachhaltiger verändern als der Genuß von LSD, Extasy oder anderer Rauschdrogen. Daher macht es auch Sinn, politisches Bewußtsein zu transportieren. Ein Bewußtsein, das wach bleibt, für gesellschaftlich politische Prozesse ohne, daß es einen konkreten politischen Zweck befördert.
Kunst/ Poesie braucht das Individuum und zwar das echte Individuum, die echte Persönlichkeit, nicht die Zielgruppe.
Das politischste an der echten Kunst/ Poesie ist, daß sie in der Lage ist, sich dem Markt zu entziehen, sich nicht vereinnahmen zu lassen, von keiner Ideologie und von keiner Bank.
Zielvorstellung Selbstorganisation: Wirkung kann Literatur nur in kleinem Raum entfalten. Entscheidend für die Kommerzialisierbarkeit oder nicht Kommerzialisierbarkeit sind weniger die Inhalte als die Distributionsform. Wir müßten es schaffen nicht nur eine geistige Nebenwirklichkeit zu erreichen, sondern auch eine poetische Nebengesellschaft, die nach rein kreativen Spielregeln funktioniert und die wahrhaft demokratisch ist, in dem Sinne, daß sich jeder daran beteiligen kann.
Zu sehr ist die Kunst und Literaturszene noch dem Einzelkämpferdenken verhaftet. Alle warten darauf, aus ihren stillen Kämmerlein heraus entdeckt zu werden mit ihrer ach so revolutionären Werken. Allein die Erwartung des Entdeckt werdens deutet auf die autoritäre Struktur der Gesellschaft.
Das Problem ist die Fixierung auf die Medien als Mittler zwischen der Poesie/ Kunst und dem Publikum.
Lösung: direkt an das Publikum ran gehen, auf das Publikum zugehen. Auf der Straße, in Kneipen, in Bahnen usw. Nicht darauf warten, vom Publikum gefunden/ entdeckt zu werden.
Was der namenlose Poet/ Künstler mit einem ihm unbekannten Publikum anfängt, allein das zeugt von der Qualität seines Tuns.
Selbstorganisation ist das Zauberwort. Diese funktioniert nur, wenn sich Künstler/ Poeten als Interessengruppe begreifen (jenseits aller existierenden Vereine, die durch Spartentrennung eher noch entsolidarisieren) und sich ein eigenes Netzwerk schaffen, in dem Werke eigenverantwortlich produziert und distributiert werden.
Die Schaffung eines unabhängigen, dezentralen, unkommerziellen künstlerisch-poetischen Netzwerkes ist ein gesellschaftspolitisches Ereignis erster Güte. Auch dieses Ereignis wird keine Kriege verhindern. Aber es kann zur Solidarisierung von Mensch zu Mensch beitragen.
Wichtig bei der Schaffung eines solchen Netzwerkes ist es, daß es prinzipiell offen ist, zwar regional organisiert wird aber flächendeckend, landesweit und international agiert bzw. sich mit anderen Netzwerken weiter vernetzt. Wichtig sind überschaubare Strukturen. Daher lieber viele kleinräumige Netzwerke die wiederum lose miteinander verknüpft sind.
Die Gefahr einer nur regionalen Selbstorganisation liegt auf der Hand. Die fördert den Wettstreit der Regionen, führt zu Abgrenzungsversuchen und dazu, als regionale Kleingruppe nicht ernst genommen zu werden.
Zum Netzwerkgedanken gehören die Knotenpunkte. Denn nur lokal, regional können wir wirklich und sichtbar etwas bewegen. Hier findet die konkrete Arbeit statt und das konkrete Ergebnis läßt sich besichtigen. Genauso wichtig sind aber die Fäden von Knotenpunkt zu Knotenpunkt. Dazu muß nicht jeder Knotenpunkt im Netzwerk mit jedem anderen Knotenpunkt direkt verbunden sein.
Wichtig ist, daß zwischen diesen Knotenpunkten Austausch geschieht, daß die Kommunikation funktioniert.